Kein Schlussstrich! Antisemitismus und Rassismus als Problem der Gesellschaft begreifen – Behördenhandeln kritisch aufarbeiten – Betroffene in den Mittelpunkt stellen

Henriette Quade
PressePresserklärungen DIE LINKE. im Landtag Henriette Quade

Das Oberlandesgericht Naumburg hat den Attentäter vom 9. Oktober 2019 verurteilt. Im Prozess hatten Überlebende des Anschlags immer wieder die Ermittlungsarbeit des Bundeskriminalamtes sowie den Einsatz am Tag selbst kritisiert. Dazu erklärt Henriette Quade, stellvertretende Vorsitzende und innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE:

»Mit dem Urteil endet der Prozess, nicht jedoch die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Anschlag vom 9. Oktober 2019. Der Prozess gegen den Attentäter hat gezeigt, dass das Bundeskriminalamt und die ermittlungsführende Bundesanwaltschaft gravierende Defizite in der Analyse rechter, antisemitischer und rassistischer Gewalt aufweisen. Insbesondere die Radikalisierungsbiografie und die Vernetzung des Attentäters sowie die Kommunikation mit seiner Online-Community konnten im Verfahren nicht ausreichend aufgeklärt werden, da es den Behörden hier an Fähigkeiten aber auch an Aufklärungswillen mangelte.

Noch immer zeichnen Sicherheitsbehörden das Bild, dass niemand einen solchen Anschlag in Halle hätte vorhersehen können. Die von Antisemitismus und Rassismus Betroffenen, Opferberatungen und andere wissen und warnen seit langem, wie real und greifbar die Gefahr durch die extreme Rechte ist und dass es rechter Terror ist, der sie trifft. In Christchurch, in Halle und in Hanau. Niemand hätte den Anschlag konkret vorhersehen können, doch dass die Gefahren, denen Jüdinnen und Juden und people of colour und andere, die die extreme Rechte zu Feinden erklärt, ausgesetzt sind, mehr und andere Sicherheitsmaßnahmen als am 9. Oktober 2019 in Halle erfordern, hätte man wissen können und müssen. Zudem hatten im Prozess Überlebende geschildert, Einsatzkräfte der Polizei hätten sie wie Tatverdächtige behandelt, der Presse ausgesetzt und wenige Stunden nach dem Anschlag allein gelassen. Dies wird auch Thema in der nächsten Sitzung des 19. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses sein, in dem am 23. Dezember Nebenkläger*innen als Zeug*innen gehört werden.

Das Prozessende verweist damit auch auf die Fehlstellen von Aufarbeitung. Denn wer Gedenken und Erinnern ernst meint, der muss handeln, Defizite in behördlicher Arbeit benennen und bearbeiten und Antisemitismus und Rassismus als Probleme der gesamten Gesellschaft, statt vermeintlicher Ränder begreifen und thematisieren.

Polizei und Staatsanwaltschaften müssen Formen, Strukturen und Realität von Rechtsextremismus kennen und zutreffend analysieren können, um effektive Strafverfolgung sicherzustellen und Ermittlungen umfassend betreiben zu können. Dass Menschen, die von rechter Hetze und Gewalt betroffen werden, Straftaten nicht mehr anzeigen, weil sowieso nichts passiert, ist inakzeptabel und zugleich Alltag. Noch immer wird die These vom Einzeltäter geführt, statt über Onlinevernetzung, internationale Netzwerke und Antisemitismus und Rassismus als Probleme der Gesamtgesellschaft zu reden. All das wird auch im Untersuchungsausschuss kaum beleuchtet, was auch am eingeschränkten Auftrag des Ausschusses liegt. Jenseits dieses Ausschusses führt die fehlende Einigungsfähigkeit der Koalition immer wieder dazu, dass Anträge verwiesen, verschoben und mit folgenlosen Beschlussempfehlungen versehen werden.

Die Koalition kann so zwar das Gesicht wahren und als Koalition bestehen, verhindert damit aber aktiv, Lehren aus dem Anschlag in Halle zu ziehen. Das ist politisches Versagen. Angesichts einer weiter ansteigenden Mobilisierung der extremen Rechten ist mit weiteren Gewalttaten zu rechnen, die Behörden sind darauf nicht ausreichend vorbereitet, ebenso wenig ein Innenministerium, das nur noch neben anderen Aufgaben geführt wird.

Das Prozessende muss also auch Anlass sein, über Versagen zu reden – politisches, behördliches, gesellschaftliches. Bei den Kundgebungen, die jeden einzelnen Prozesstag begleitet haben und auch bei der Ausstellung zum Jahrestag des Anschlags in Halle, passierte genau das. Betroffene wurden in den Mittelpunkt gestellt, ihren Perspektiven und Ängsten und ihren berechtigten Erwartungen und Forderungen Raum geschaffen und Solidarität gelebt. Sie leisteten damit das, was weder Politik noch Mehrheitsgesellschaft ausreichend geschafft haben. Allen, die das organisiert und realisiert haben, ist deswegen nicht genug zu danken. Den engagierten Nebenkläger*innen und all jenen, die ihre Worte immer wieder dokumentiert und in den Vordergrund gestellt haben, gilt mein besonderer Dank.

Wie ernst das Entsetzen über den Anschlag von Halle gemeint ist, wird sich in den nächsten Monaten und Jahren mehr denn je an der Frage messen lassen müssen, welche Lehren aus ihm gezogen werden. Bekenntnisse reichen nicht – es braucht wirksames Handeln.«